Buch, Claudia M.; Hiemenz, Ulrich; Koop, Michael J.; Lücke, Matthias; Schrader, Klaus; Schrettl, Wolfram; Schrooten, Mechthild; Weißenburger, Ulrich; Gabrisch, Hubert; Sigmund, Peter
Description:
Angesichts der schwierigen Ausgangslage — starke Abhängigkeit der Wirtschaft von Rußland und hohe Folgelasten der Katastrophe von Tschernobyl — versuchte die weißrussische Regierung auch in der zweiten Jahreshälfte 1993 und zu Beginn des Jahres 1994, die Kosten der Systemtransformation in Gestalt eines Rückgangs der Produktion und einer temporären Verschlechterung des Lebensstandards möglichst gering zu halten. Dazu verschob sie immer wieder notwendige Reform schritte und griff auf planwirtschaftliche Methoden in der Wirtschaftspolitik zurück. Die wichtigsten Instrumente zur Aufrechterhaltung von Produktion und Beschäftigung waren unverändert umfassende Staatsaufträge, eine zentrale Steuerung des überwiegenden Teils der Investitionen, Vorzugskredite an Industrie und Landwirtschaft sowie Preiskontrollen. Die Privatisierung machte nur sehr langsame Fortschritte und erschöpfte sich weitgehend in der Umwandlung von Staatsbetrieben in staatliche Aktiengesellschaften. Die Liberalisierung der Preise erfolgte ebenfalls nur schleppend, mit der Konsequenz, 24 daß umfangreiche Subventionszahlungen den Staatshaushalt weiterhin belasten. Grundlegende Reformen des Steuersystems und der Ausgabenstruktur des Haushalts fanden bisher nicht statt. Die Geldpolitik war durch Vorzugskredite an Regierung, Landwirtschaft und für Investitionszwecke gekennzeichnet, und die Realzinsen blieben negativ. Diese Strategie ist erkennbar gescheitert. Zwar fiel der Rückgang von Produktion und Investitionen trotz der großen Abhängigkeit von den Wirtschaftsbeziehungen mit den übrigen Nachfolgestaaten der UdSSR 1992 und 1993 geringer aus als in Rußland, und die Arbeitslosenquote blieb mit offiziell etwa 1,4 vH Ende 1993 sehr niedrig. Aber die Kosten einer verschleppten Transformation nahmen im Laufe des Jahres 1993 rapide zu und kulminierten im ersten Quartal 1994 in einem Rückgang von Nationaleinkommen und Industrieproduktion von mehr als einem Drittel. Damit fiel der Produktionsrückgang am Anfang des Jahres deutlich stärker aus als in Rußland. Die Realeinkommen der Bevölkerung, die von Januar bis Juli 1993 konstant geblieben waren, nahmen seit August des vergangenen Jahres drastisch ab. Der Staatshaushalt zeichnete sich im ersten Quartal 1994 durch einen explosionsartigen Anstieg der Ausgaben und des Defizits aus. Im Außenhandel nahmen Exporte und Importe weiter ab, wobei für den Rückgang der Exporte neben der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Produkte weitverzweigte Kontrollen und Steuerbelastungen verantwortlich waren. Die Anlageinvestitionen sanken 1993 um 13 vH, so daß der ohnehin wettbewerbsschwache Kapitalstock zunehmend veraltete. Ausländische Investitionen fanden bisher kaum statt, u.a. weil eine Beteiligung von Ausländern an der Privatisierung offensichtlich unerwünscht ist. Kredite des Auslands flössen 1993 überwiegend an den Staatshaushalt und wurden konsumtiv verwendet. Der Versuch, die bestehenden Ansprüche an das Sozialprodukt über zinsvergünstigte Kredite an Regierung und Wirtschaft aufrechtzuerhalten, muß bei rückläufiger Wirtschaftsleistung zu einer Beschleunigung der Inflation führen. Die Geldmenge expandierte 1993 stärker als im Vorjahr. Auch die Preisentwicklung fällt mittlerweile bedrohlicher aus als in Rußland. Mit einer monatlichen Steigerung der Verbraucherpreise von durchschnittlich 42 vH in den letzten vier Monaten 1993 und im Januar 1994 stand Weißrußland am Beginn einer Hyperinflation. Zwar ging die Inflationsrate im Februar und März 1994 zurück, aber es ist damit zu rechnen, daß die starke Expansion des Budgetdefizits im ersten Quartal wieder zu einer Beschleunigung der Inflation führen wird. Unter diesen Umständen wird es immer schwieriger, den Beschäftigungsstand mit einer Ausweitung des Budgetdefizits und mit Zentralbankkrediten aufrechtzuerhalten. Damit zeichnet sich für die absehbare Zeit ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit bei hoher Inflation ab. Angesichts des Versagens des bisherigen wirtschaftspolitischen Konzepts tritt die Regierung nun offenbar die Flucht in die Wiederbelebung der Rubelzone mit Rußland an. Sie verbindet damit die Hoffnung, einen weiteren Zusammenbruch der Produktion und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit durch die Zoll- und Währungsunion mit Rußland doch noch abwenden zu können. Insbesondere wird erwartet, wieder mit Erdöl zu den gegenwärtig noch niedrigen russischen Binnenpreisen beliefert zu werden, alte Absatzmärkte in den GUS-Republiken zurückzugewinnen und sich an russischen Geldschöpfungsgewinnen („seignorage") zu beteiligen. Der Preis dafür ist allerdings eine völlige Aufgabe der geld- und fiskalpolitischen Autonomie Weißrußlands. Ein entsprechendes Abkommen vom April 1994, das keinen konkreten Termin für die Integration des weißrussischen in das russische Geldsystem nennt, läßt der russischen Seite aber ausreichend Spielräume, um die zu erwartenden Belastungen für die eigene Wirtschaft möglichst gering zu halten. Zwar könnte bei einer entsprechenden Stabilisierungs- und Reformpolitik in Rußland die Rubelzone einen Import an Stabilität für Weißrußland bedeuten, jedoch muß eine für Rußland angemessene Geld-, Fiskal- und Einkommenspolitik für Weißrußland angesichts der geringen Fortschritte der Systemtransformation nicht gleichermaßen angemessen sein. Dies wird besonders deutlich in der Verpflichtung Weißruß25 lands, die Löhne und Gehälter im haushaltsfinanzierten Bereich nach Inkrafttreten der Währungsunion den russischen Löhnen anzugleichen, so daß für Weißrußland keine nennenswerten einkommenspolitischen Spielräume zum Ausgleich von Produktivitätsunterschieden verbleiben. Vorschläge zur Lösung der sich zuspitzenden Wirtschaftsprobleme müßten deshalb vorrangig auf der nationalen und nicht auf der internationalen Ebene ansetzen, wobei zwei Bereichen eine Schlüsselrolle zukommt: einer Reform des Finanz- und Kreditsystems sowie einer allgemeinen Deregulierung mit dem Ziel, den marktwirtschaftlichen Strukturwandel in Gang zu setzen. Das Wirtschaftsprogramm der Regierung für 1994 kommt diesen Erfordernissen kaum nach. Weiterhin soll mit umfangreichen Staatsaufträgen und einer zentralen Steuerung fast aller Investitionen dem Zusammenbruch der Produktion entgegengewirkt werden. In einigen Bereichen (Energie, Ressourcen, Aufkauf landwirtschaftlicher Produkte) sollen offenbar die zentralen Kontrollen und die distributive Funktion des Staates noch verstärkt werden. Außerdem will die Regierung 1994 ihre Privatisierungsanstrengungen verstärken, wobei insbesondere die Scheckprivatisierung vorzeitig gestartet worden ist. Damit könnte zwar die bisherige Praxis einer bloßen Umwandlung von Staatsbetrieben in staatliche Aktiengesellschaften durch eine echte Privatisierung ergänzt werden. Allerdings ist angesichts der weitverzweigten staatlichen Kontrollen der Unternehmen und der vielen Ausnahmen von der Privatisierung daran zu zweifeln, daß dadurch handlungsfähige private Eigentumsstrukturen in einem Umfang geschaffen werden, die zu einer spürbaren Erholung und Umstrukturierung der weißrussischen Wirtschaft führen. Zusammenfassend muß konstatiert werden, daß weder die notwendige Kehrtwende in der Reformpolitik derzeit in Sicht ist, noch der Beitritt zur Rubelzone einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise verspricht. Vor diesem Hintergrund kann nicht dazu geraten werden, weitere Finanzmittel für Weißrußland bereitzustellen, zumal die Gefahr besteht, daß Kredite vorwiegend konsumtiv verwendet werden oder angesichts fehlender makroökonomischer Stabilität und „weicher Budgetbeschränkungen" fehlgeleitet werden. Einem schnellen Anstieg der Auslandsverschuldung würde ebenso schnell die Zahlungsunfähigkeit folgen. Nach wie vor bleibt aber ein verbesserter Zugang Weißrußlands zu westlichen Märkten und eine Beteiligung bei der Bewältigung der Folgen von Tschernobyl eine sinnvolle Unterstützung seitens des Westens, die durch technische Hilfe ergänzt werden kann.